Fangen wir an, mit der Wehrpflicht in Deutschland – Artikel 12a Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland “Wehr- und Dienstpflicht”:
Artikel 12a – Wehr- und Dienstpflicht
(1) Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden.
(2) Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden. Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen. Die Einzelheiten regelt ein Gesetz.
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- https://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html
Dieser Artikel bildet die rechtliche Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht, auch wenn diese seit 2011 durch ein Gesetz ausgesetzt wurde. Der Artikel selbst wurde allerdings nicht aus dem Grundgesetz entfernt, was bedeutet, dass die Wehrpflicht theoretisch jederzeit durch einen Parlamentsbeschluss wieder aktiviert werden könnte.
Und jetzt in die Details:
Die Aussetzung der Wehrpflicht in Deutschland
Eine tiefere Analyse der politischen und gesellschaftlichen Hintergründe
Die Entscheidung, die Wehrpflicht in Deutschland 2011 auszusetzen, war nicht nur eine sicherheitspolitische Maßnahme, sondern auch ein Spiegelbild der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Diese Maßnahme hat weitreichende Konsequenzen, die bis heute spürbar sind. Um die Tragweite dieser Entscheidung zu verstehen, ist es wichtig, die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe genauer zu beleuchten.
Politische Hintergründe
1. Ende des Kalten Krieges und veränderte Bedrohungslage:
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Wiedervereinigung Deutschlands veränderte sich die sicherheitspolitische Landschaft Europas grundlegend. Die Bundeswehr, die ursprünglich als Verteidigungsarmee gegen eine mögliche Invasion des Warschauer Pakts konzipiert war, musste sich neuen Aufgaben stellen, wie internationalen Friedensmissionen und humanitären Einsätzen.
2. Europäische Integration und NATO-Strategie:
Deutschland war zunehmend in europäische und transatlantische Sicherheitsstrukturen eingebunden. Die NATO setzte verstärkt auf flexible und professionelle Streitkräfte, was die Wehrpflicht als veraltet erscheinen ließ.
3. Politischer Konsens und Reformdruck:
Die Aussetzung der Wehrpflicht war Teil einer umfassenden Reform der Bundeswehr, die unter der Regierung von Angela Merkel und dem damaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg vorangetrieben wurde. Es bestand ein breiter Konsens, dass die Wehrpflicht nicht mehr zeitgemäß war.
Gesellschaftliche Hintergründe
Die Wehrpflicht wurde zunehmend als Eingriff in die persönliche Freiheit wahrgenommen. In einer Gesellschaft, die Individualität und Selbstbestimmung betont, stieß die Zwangsverpflichtung auf wachsenden Widerstand (Wertewandel). Die Wehrpflicht galt als ungerecht, da sie nur Männer betraf und viele durch Ausmusterung oder Zivildienst von der Wehrpflicht befreit wurden. Dies führte zu einer Debatte über die sogenannte “Wehrgerechtigkeit”.
Die schrumpfende und alternde Bevölkerung Deutschlands stellte die Wehrpflicht vor zusätzliche Herausforderungen. Es wurde schwieriger, genügend junge Männer für den Wehrdienst zu rekrutieren (Demokrafischer Wandel).
Auswirkungen auf die heutige Zeit
1. Personalmangel in der Bundeswehr:
Die Umstellung auf eine Freiwilligenarmee hat zu erheblichen Rekrutierungsproblemen geführt. Die Bundeswehr kämpft seit Jahren mit einem Mangel an qualifiziertem Personal, was ihre Einsatzfähigkeit beeinträchtigt.
2. Verlust des Zivildienstes:
Mit der Aussetzung der Wehrpflicht entfiel auch der Zivildienst, der eine wichtige Rolle in sozialen Einrichtungen spielte. Dies führte zu Lücken in der Versorgung, die bis heute nicht vollständig geschlossen wurden.
3. Neue sicherheitspolitische Herausforderungen:
Angesichts der aktuellen geopolitischen Spannungen, wie dem Krieg in der Ukraine, wird die Wiedereinführung der Wehrpflicht wieder diskutiert. Befürworter argumentieren, dass eine allgemeine Dienstpflicht die gesellschaftliche Solidarität stärken könnte, während Kritiker auf die Notwendigkeit einer professionellen und technologisch fortschrittlichen Armee hinweisen.
Schlussfolgerung
Die Aussetzung der Wehrpflicht war eine Entscheidung, die sowohl von sicherheitspolitischen als auch von gesellschaftlichen Überlegungen geprägt war. Sie hat Deutschland in vielerlei Hinsicht modernisiert, aber auch neue Herausforderungen geschaffen. In einer Welt, die von Unsicherheit und neuen Bedrohungen geprägt ist, bleibt die Frage offen, ob die Aussetzung der Wehrpflicht langfristig die richtige Entscheidung war oder ob alternative Modelle, wie eine allgemeine Dienstpflicht, die bessere Lösung darstellen könnten. Die Diskussion über die Wehrpflicht ist letztlich auch eine Debatte über die Werte und Prioritäten einer Gesellschaft.
Allerdings hat die Bundeswehr das sogenannte Wehrersatzwesen zur Erfassung, Musterung und Verwendung der Dienstpflichtigen weitgehend abgeschafft. Die Truppe ist mit 183 000 Soldatinnen und Soldaten derzeit noch kleiner als vor zwölf Jahren, hätte also für Dienstpflichtige weiterhin nicht ausreichend Verwendung; und da wären die jungen Frauen nicht mitgezählt, die heute wahrscheinlich ebenfalls in die Dienstpflicht einbezogen würden – so wie beim 2017 nach dem Schock der russischen Krim-Annexion neu eingeführten Wehrdienst in Schweden, der die Landesverteidigung auf eine viel breitere Basis stellen soll. Seit der Öffnung der Bundeswehr für Soldatinnen 2001 macht deren Anteil heute bereits 13 Prozent aus.
Sicher ist jedenfalls: Eine Rückkehr zur Wehrpflicht, wie auch immer diese aussähe, würde für die Bundeswehr einen erneuten massiven Umbau bedeuten.
- SZ 2. Februar 2023, https://www.sueddeutsche.de/politik/wehrpflicht-aussetzung-bundeswehr-1.5743746